3. Dialog: An der Quelle des Ursprungs
- matthias beyerle
- 13. Sept.
- 7 Min. Lesezeit

Szene: Ich sitze an der verborgenen Quelle im Wald. Das Wasser strömt aus der Erdtiefe hervor, wirbelt in kleinen Kaskaden, sammelt sich zu stillen Becken und fliesst weiter seinem unbekannten Ziel entgegen. Monate sind vergangen seit unserer ersten Begegnung.
WANDERER: Lange Zeit habe ich versucht, authentisch zu werden. Doch heute spüre ich etwas anderes: Was wäre, wenn ich bereits bin, was ich suche?
QUELLE (in ihrem strömenden, wirbelnden Sprechen): Zurück... ströme zurück zu deinem Ursprungsgrund... Was findest du dort, wo das Werden ins Meer mündet... und das Sein entspringt? Ich entsprang vor deinem ersten Atemzug... werde fliessen nach deinem letzten... doch jetzt... jetzt vereinen sich unsere Wasser... mischen sich unsere Tiefen...
WANDERER: Dann fällt alle Anstrengung weg. Dann bleibt nur noch... ich. Einfach ich. Aber ist das genug?
QUELLE: Genug? Ist der Ozean genug... ist der Himmel genug...? Du fragst, ob Regentropfen genug sind... ob die Quelle in der Wüste genug ist... Einfach du – das ist die ganze Wasserfülle... nicht die Verbesserung deines Strömens... sondern der Strom selbst... ungeteilt... wie der Wasserfall, der nicht fragt... warum er stürzt... sondern stürzt...
WANDERER: Wenn ich in diese Ruhe hineinspüre, erkenne ich etwas so Vertrautes. Als würde ich nach langer Wanderung an eine bekannte Bucht zurückkehren. Bin das wirklich ich?
QUELLE (wie ein tiefer Strudel, der sich öffnet): Du erinnerst dich... erinnerst dich... Das Vertraute ruht in deinem Grundwasser... wie ich in meinem Felsbett... Dein wahres Wesen versickerte nie... nur überdeckt von Sedimenten... von Geröll der Zeit... aber darunter... darunter rinnt unberührt... was immer war... Der unterirdische Fluss kennt keine Eile... auch du bist zeitlos... auch du entspringst aus ewiger Tiefe...
WANDERER: Es fühlt sich so einfach an. Warum habe ich es nur so kompliziert gemacht?
QUELLE (wie das Murmeln eines Bergbachs): Einfach... einfach wie Tau am Morgen... doch Einfachheit ist das Schwerste... weil sie nichts fordert... nichts beweisen will... Du dachtest, Dasein muss erworben werden... wie Wasserstollen, die gegraben werden müssen... doch Sein ist Quellwasser... unerschöpflich... geschenkt... Ich frage nicht die Berge um Erlaubnis... zu entspringen... Du fragst nicht das Leben um Erlaubnis... zu sein...
WANDERER: Aber was ist mit den Erwartungen der anderen? Was, wenn sie wollen, dass ich anders bin?
QUELLE: Ihre Erwartungen... wie Eisschollen im Frühjahr... treiben vorüber... schmelzen im warmen Strom meiner Wahrheit... Dein Sein gehört deinem tiefsten Brunnen... wie mein Fliessen meinem verborgenen Ursprung... Du kannst Bäche der Liebe nähren... ohne dein Flussbett zu verlassen... kannst in fremde Täler mäandern... ohne deine Mündung zu vergessen...
WANDERER: Ich spüre es zum ersten Mal richtig – ich darf sein, wie ich bin. Nicht trotz meiner Windungen, sondern gerade mit ihnen.
QUELLE (in warmen, umschlingenden Wellen): Ja... ja... deine sogenannten Untiefen... wie meine Kieselsteine am Grund... sie formen mein Lied... machen meinen Klang einzigartig... ohne sie wäre ich stummer Kanal... Deine Stromschnellen – deine Kraft... deine stillen Buchten – deine Weisheit... Die Felsen in deinem Flusslauf... dort entsteht das schönste Rauschen... dort tanzt das Licht am hellsten... Einzigartigkeit braucht keine Begradigung... sie braucht nur ihr natürliches Gefälle...
WANDERER: Was verändert sich, wenn ich das wirklich, wirklich annehme?
QUELLE (wie ein sich weitender Delta): Du hörst auf... gegen deine eigenen Ufer zu drängen... wie Hochwasser, das sein Bett akzeptiert... und sanft durch die Landschaft mäandert... Du wirst dein eigener treuer Zufluss... dein eigener nährende Nebenarm... Und aus dieser Selbstbewässerung... wie aus meinen verborgenen Quellen... entspringt wahre Liebe... nicht dürstend... sondern tränkend... nicht suchend nach Mündung... sondern schenkend aus Überfülle...
WANDERER: Jetzt verstehe ich – ich bin nicht hier, um ein anderer Fluss zu werden. Ich bin hier, um mein eigenes Flussbett zu entdecken.
QUELLE (wie ein Echo aus ozeanischer Tiefe): Entdecken... wie Grundwasser, das an die Oberfläche tritt... Wo es immer schlummerte... in den Tiefen deiner Seele... Dein wahres Gesicht lag nie unter Masken verborgen... nur unter dem Glauben an Maskeraden... Der tiefste Seelenfrieden ist... ist Heimkehr zum eigenen Quellmund... nicht Ankunft am fremden Ufer... sondern Erkennen... Du warst nie versiegt – nur vergesslich... Jetzt erinnerst du dich... an die Heimatgewässer... in dir selbst...
WANDERER (leise, aber mit einer Klarheit wie klares Bergwasser): Ich darf sein, wie ich bin.
QUELLE (kaum vernehmbar, wie das leiseste Sickerwasser): Du warst nie... nie anders vorgesehen im grossen Wasserkreislauf... nie anders gemeint in der Strömung des Seins... nie anders geliebt vom Himmel, der dich regnet... Seit der ersten Schneeschmelze... bis zum letzten Tropfen im Meer... So wie du rinnst... so wie du dich windest... vollkommen in deinem Lauf... ganz in deiner Art zu fliessen... Du warst nie... nie anders gedacht... nie anders im Plan der Wasserwelt... nie anders geliebt...
Ich bleibe noch sehr lange sitzen, lausche den tausend Stimmen des Wassers – dem Gurgeln, Rauschen, Plätschern, Murmeln. Jeder Ton scheint zu singen: "Du darfst fliessen... du darfst sein... du darfst strömen..." Als ich schliesslich aufstehe, spüre ich: Die Quelle ist nun Teil meines eigenen Wassersystems geworden. Wo immer ich hingehe, werde ich anderen diese eine strömende Wahrheit bringen können: Du darfst sein, wie du bist – so mäandernd, so einzigartig, so vollkommen in deinem eigenen Flusslauf, wie du bist.
Nach der Quelle – Meditationen
I. Die Nähe des Unsichtbaren
Was die Quelle den Achsenatem nennt, ist vielleicht nur das Erinnern an jene Zeit, da wir noch wussten: Atmen und Sein sind ein einziges Wort. Dieser unsichtbare Strohhalm, durch den die Luft fliesst, führt nicht nach aussen, sondern nach innen – dorthin, wo keine Worte mehr nötig sind.
Es ist wie das erste Licht des Morgens, das nicht ankommt, sondern da ist. Plötzlich. Ohne Vorankündigung. Als hätte es niemals gefehlt.
II. Der Kreis des Schweigens
Diese Energiefeldgrenze, von der die Quelle sprach – sie ist unsichtbar wie der Duft der Linde im Juni. Man kann sie nicht greifen, aber man weiss, wann man sie betritt. Hier, in diesem stillen Umkreis, darf ich sein, ohne zu erklären, warum.
Sie schützt nicht vor der Welt, sondern vor der Verwirrung über die Welt. In ihr verstehe ich: Das Wesentliche braucht keinen Beweis. Es ist da wie das Wasser im Brunnen, wie das Schweigen zwischen zwei Worten eines Gebets.
III. Der alte Torwächter
Der innere Kritiker, dieser müde Wächter am Tor der Vergangenheit, hat vergessen, was er bewachen sollte. Seine Stimme ist heiser geworden vom langen Rufen in die Leere. Wenn ich ihm sage, dass der Krieg vorbei ist, dass er nach Hause gehen darf, sehe ich eine Erleichterung in seinem Blick, die mich an das Fallen der Blätter im Herbst erinnert.
Nicht Kampf braucht er, sondern Verständnis. Nicht Sieg, sondern Ruhe. Wie ein alter Hund, der endlich vor dem Feuer liegen darf.
IV. Das Gedächtnis der Zellen
Im Gewebe meines Körpers schlafen Geschichten, älter als meine Erinnerung. Der Gewebeatem, den die Quelle lehrte, weckt sie sanft – nicht um sie zu lesen, sondern um sie ziehen zu lassen wie Wolken über den Himmel.
Alte Trauer steigt auf wie Nebel vom Fluss bei Tagesanbruch. Sie bleibt nicht, sie will nur gesehen werden, einmal, bevor sie sich auflöst. Vergessene Freude glimmt auf wie Glühwürmchen in der Dämmerung – still, überraschend, ohne zu fordern.
Es ist ein Frühling im Knochenmark, ein Tauwetter in den tiefsten Schichten des Leibes.
V. Die einfache Anerkennung
"Du darfst sein, wie du bist" – diese Worte der Quelle sind wie ein Licht, das keinen Schatten wirft. Sie kommen von keinem Ort und gehen zu keinem Ziel. Sie sind einfach da, wie die Luft, die wir atmen, ohne daran zu denken.
Diese Anerkennung unterscheidet nicht zwischen dem Schönen und dem Gebrochenen. Sie fällt auf alles wie der Regen – gleichmütig, notwendig, ohne Urteil.
Wenn ich sie mir selbst gebe, öffnet sich etwas in mir, das ich nicht kannte – ein Raum, gross wie die Kindheit, still wie der erste Schnee.
VI. Die Geometrie der Liebe
In der Liebe begegnen sich zwei Einsamkeiten, sagt die Quelle. Was wir zunächst Liebe nennen, ist oft nur die Projektion unserer Bedürftigkeit auf ein fremdes Gesicht. Das ist nicht schlimm – es ist der Anfang.
Aber die reife Liebe beginnt dort, wo die Projektion endet. Wo zwei Menschen aufhören, voneinander zu träumen, und anfangen, einander zu sehen. Nicht als Erfüllung ihrer Träume, sondern als Menschen, die ihre eigenen Träume haben.
Dann entsteht ein Raum zwischen ihnen, der keinem von beiden gehört. Ein Raum wie eine Lichtung im Wald, wo das Licht von nirgendwo kommt und überallhin geht.
VII. Die Rückkehr zum Namenlosen
Was die Quelle Ganzheit nennt, ist vielleicht nur die Erinnerung an den Zustand vor der ersten Trennung. Bevor wir lernten zu unterscheiden zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Innen und Aussen, zwischen dem Atmenden und dem Atem.
Ganzheit ist nicht die Summe der Teile. Sie ist das, was bleibt, wenn die Teile vergessen, dass sie Teile sind. Wie das Wasser, das nicht weiss, dass es aus Tropfen besteht.
VIII. Der Zustand vor dem Namen
Der BAG-Zustand – Bewusstsein, Atem, Genehmigung – ist wie das Ankommen an einem Ort, den man nie verlassen hat. Es ist nicht das Erreichen von etwas Neuem, sondern das Wiedererkennen von etwas Vertrautem.
Hier verstehe ich: Authentizität ist nicht etwas, das erworben wird. Sie ist das, was übrig bleibt, wenn alles Erworbene wegfällt. Wie das Gesicht unter der Maske, das einfacher ist als jede Maske.
IX. Die andere Seite des Bekannten
Die Quelle führt mich nicht fort von dieser Welt, sondern tiefer in sie hinein. Zu jener anderen Seite der Dinge, wo jeder Gegenstand auch Geheimnis ist, wo jedes Wort auch Schweigen ist.
Dort ist das Gewöhnliche aussergewöhnlich, nicht weil es sich verändert hätte, sondern weil der Blick sich gereinigt hat. Wie nach einem langen Regen, wenn die Luft so klar ist, dass man meint, zum ersten Mal zu sehen.
X. Das fortdauernde Gespräch
Die Quelle fliesst weiter in mir, auch wenn ich nicht mehr an ihrem Ufer sitze. Ihr Murmeln ist Teil meines Blutes geworden, ihr Rhythmus Teil meines Atems.
Jeder Tag ist nun ein neuer Satz in diesem Gespräch mit dem Leben. Nicht ich führe es – es führt mich. Wie ein Pfad, der sich beim Gehen zeigt, der da ist, ohne gemacht worden zu sein.
XI. Die endgültige Einfachheit
Am Ende aller Wege wartet die erstaunlichste Entdeckung: Das Gesuchte war das Nächste. Näher als die Haut, selbstverständlicher als das Licht, das durch die Augen fällt.
Es war immer da, wartend unter den Schichten unserer Bemühungen, unserer Ängste, unserer wohlmeinenden Versuche, jemand anderes zu werden.
Die Quelle hatte recht: Ich war nie anders gedacht. Diese Worte bedeuten: Du darfst aufhören, dich zu suchen. Du darfst anfangen, dich zu finden – hier, jetzt, in diesem Atemzug, der keinen Namen braucht.
XII. Das Weitergehen
Ich gehe weiter, aber anders als vorher. Nicht mehr als einer, der etwas will, sondern als einer, der etwas hat – nicht als Besitz, sondern als Gewissheit. Die Gewissheit, dass das Leben grösser ist als unsere Verwirrung über das Leben.
Mit jedem Schritt erkenne ich den Boden wieder, auf dem ich schon immer gestanden habe. Mit jedem Atemzug höre ich das Lied, das ich schon immer gesungen habe, ohne zu wissen, dass es aus mir kommt.
Die Quelle ist nun überall. In jeder Begegnung, in jedem Schweigen, in der stillen Freude über das, was einfach ist: hier zu sein, zu atmen, zu staunen über das Wunder des Gewöhnlichen.




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